Der Rote Faden 1

Ohne geht gar nicht!, sagte neulich beim Autorenstammtisch eine Schriftstellerin im geblümten Sommerkleid. Alle nickten. Ein Text ohne roten Faden ist ein kollektives No-Go.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie rigide sie denkt. Kinder, haltet euch schön fest, sonst fallt ihr über Bord und ertrinkt im Meer der Möglichkeiten.

Oft höre ich, wie entscheidend der rote Faden sei und dass ich meine Geschichten gefälligst stringenter erzählen solle, ohne Nebenwege, Umwege und Abwege.

Auf dem Nachhauseweg im Bus, als es natürlich zu spät war, fiel mir Heinrich Heine ein. Schon vor 150 Jahren hat er auf Spannungsdramaturgie verzichtet und seine eigene Schreibweise gefunden. Er verknüpft Disparates, ohne es an den roten Faden zu fesseln. Seine Reisebilder sind locker verbunden durch die Reiseroute, die Orte, die die Kutsche passiert. In Deutschland – ein Wintermärchen etwa führt der Bogen vom Ausgangsort (Aachen) über mehrere Stationen bis zum Ziel (Hamburg). Dazwischen ist alles möglich. Dem Reisenden begegnen ganz unterschiedliche Geschichten, Reflexionen, Gedichte, Träume. Auch seine Gedanken gehen auf die Reise. Er schläft ein, und plötzlich ist er am Kyffhäuser, mehrere hundert Kilometer weiter östlich.

Als ich aus dem Bus stieg, dachte ich, Heine hätte mich verstanden.

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