Die Freude am Zensurengeben

Konnte mich leider nicht überzeugen, habe es abgebrochen“, schreibt eine Leserin im Internetportal Lovelybooks über Lutz Roman. Mehr Worte hat sie nicht dafür übrig. Sie meint es sicher nicht böse, dennoch bestraft sie den Autor mit zwei von fünf Sternen.

Für die Arbeit eines Schriftstellers wäre es hingegen wichtig zu erfahren, was genau der Leserin nicht gefällt, was sie sich anders gewünscht hätte und an welcher Stelle sie dachte, jetzt mag ich nicht mehr.

Bei Facebook (https://www.facebook.com/Tatort/) geben Fernsehgucker Kommentare ab:

– War irgendwie nix.

– Super Tatort.

– Bin begeistert. So macht Tatort Spaß.

– Der war mal richtig gut!!!

– Sowas mag ich nicht.

– Ich auch nicht … Voll Quatsch.

Werturteile. Argumente sind selten, auch wenn mal ein „Kritiker“ viele Worte findet.

– Das war ein ausgezeichneter Tatort. Präzise, unpretentios, dramatisch, sensibel, großartiges Ermittlerteam, zurückhaltend und deswegen schauspielerisch überragend, eine Ausnahmeleistung hat „der Lügner“, Manuel Rubey, gezeigt. Das war vielleicht der beste Stuttgart-Tatort bislang überhaupt. Note 1.

Der „Kritiker“ glaubt zu beschreiben, reiht aber wertende Adjektive aneinander, gleich sieben. Wir erfahren nicht, was er gesehen hat, wie es bei ihm angekommen ist und welche Maßstäbe er weshalb anlegt. Stattdessen Note 1. Als Schulkinder bekamen wir die Noten; nun kehren wir den Spieß um – und müssen unsere Bewertung nicht einmal begründen.

Als ich vor Jahren zum ersten Mal hörte, dass die Bild-Zeitung Fußballspielern nach jedem Spiel Zensuren gab, habe ich gelacht. Inzwischen hat sich das Zensurengeben seuchenartig ausgebreitet.

Wir haben das Denkmuster verinnerlicht: Bevor wir Buch oder Film auf uns wirken und nachwirken lassen, klettern wir aufs hohe Ross und wissen alles besser. Wir schieben das Bewerten zwischen uns und die Kunst, damit sie uns ja nicht zu nahe tritt.

Ein Kunstwerk könnte überraschen, verwirren, verunsichern, zu denken geben – aber wer nimmt sich dafür die Zeit?

Wer Werturteile raushaut, bevor Kunst wirken kann, verzichtet auf Verständnis, Veränderung, Reflexion. – Traurig.

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